Durch und durch unabhängig
Knapp 90 Jahre war Frau M. alt, als sie Kontakt mit uns aufnahm. Sie war in ihrem Alltagsleben noch sehr autonom, doch für einen anstehenden Besuch im Krankenhaus wollte sie doch etwas Unterstützung. Durch und durch unabhängig, wie sie ihr ganzes Leben war, wollte sie nicht ihre Verwandten kontaktieren und beschloss, sich eigenständig um Hilfe umzusehen.
Unsere ehrenamtliche Mitarbeiterin Irene hat sie ins Krankenhaus begleitet und blieb danach mit ihr in Kontakt. Als ich einige Zeit später die Betreuung übernahm, stand ein weiterer Besuch im Krankenhaus an und ich habe sie dorthin begleitet. Leider stellte sich heraus, dass sie für ein paar Tage stationär aufgenommen werden musste. Gewöhnt daran, von niemandem auch nur in geringer Weise abhängig zu sein, war ihr die ganze Situation schlicht zuwider. Sie hatte damals auch ganz kurz überlegt, nach dem Krankenhausaufenthalt ins Heim zu übersiedeln, doch wieder zu Hause, konnte sie sich dann doch nicht entschließen ihre gewohnte Umgebung zu verlassen.
Ich hatte zu dieser Zeit gerade eine neue Arbeitsstelle angetreten und so übernahm Moni die weitere Begleitung von Frau M. und hielt regelmäßig Kontakt mit ihr. Freitags besuchte Frau M. den Bauernmarkt um Obst und Gemüse zu kaufen und dann ging es traditionellerweise zum Biogeschäft Steiner. Wann immer Moni am Freitag Zeit hatte, traf sie Frau M. dort zum Mittagessen und auf ein Pläuschchen.
Es gab eine richtig „eingesessene“ Runde, alle kannten einander, doch Frau M. saß nie mit den anderen Stammgästen zusammen, sondern lieber am Nebentisch. Moni meldete sich vor allem auch an Feiertagen telefonisch bei ihr. Als sie sie am Weihnachtsabend anrief, konnte Frau M. kaum fassen, dass jemand an sie gedacht hatte.
Abenteurerin und Opernliebhaberin
Ganz wichtig war ihr die Natur, sie liebte Bergwandern, besonders die Hohe Wand war eine Lieblingsgegend und bis zum Ende ihres Lebens Thema von Erzählungen. Auch hatte sie eine gehörige Portion Abenteuerlust in sich, unternahm sie doch schon in den 30-er Jahren ausgedehnte Fahrten mit dem Motorrad.
Wandern, ihre Arbeit als Sekretärin und die Musik waren die Fixpunkte in ihrem Leben. Sie war eine begeisterte Opernliebhaberin und Radiohörerin – dem Fernsehen hat sie sich stets verweigert. Menschen, so scheint es, hatten da nicht so einen großen Stellenwert. Immer wieder kamen in Erzählungen Andeutungen einer Enttäuschung, allerdings nie etwas Genaueres, denn in sich hinschauen lassen, das war eben nicht ihre Sache.
Woran wir uns beide, Moni und ich, gut und gerne erinnern, war ihre ausnehmend gewählte Ausdrucksweise, es war ein Vergnügen ihr zuzuhören. Geschichten aus der Schweiz zum Beispiel, wo sie als Kind nach dem ersten Weltkrieg viel Zeit verbracht hatte, Geschichten aus dem Wiener Alltagsleben der 20-er Jahre und natürlich Erzählungen von Aufenthalten in der geliebten Natur. Die Föhrenberge waren übrigens ihre Hauptmotivation gewesen nach Mödling zu übersiedeln.
In einer eigenen Welt
Nachdem Moni sie im Frühsommer dieses Jahres einige Zeit telefonisch nicht erreichen konnte, begann sie, sich umzuhören und fand schließlich heraus, dass Frau M. in der Wohnung gestürzt und ins Krankenhaus und danach ins Pflegeheim gekommen war. Dort haben wir sie wieder gefunden und abwechselnd weiter besucht.
Sie hat sich immer so gefreut, dass sich jemand Zeit nimmt, sie zu besuchen. Ja, die Zeit. Das war zuletzt ein großes Thema, sie hatte wohl eine Armbanduhr, doch immer wenn ich kam, war diese Armbanduhr irgendwo, nur nicht an ihrem Handgelenk. Ich habe sie ihr dann immer angelegt, doch einmal war sie verschwunden und nicht mehr auffindbar. Ich wollte eine neue organisieren, doch Frau M. meinte, ach nein, es ist nicht wichtig. Und doch – sie erzählte mir von einem Traum, dass in Mödling alle Uhren gestohlen worden waren und nun niemand weiß, wie spät es ist … und dass sie, wenn sie mit den Rothschilds verwandt wäre, für jedes Zimmer im Heim eine große Uhr kaufen würde. Als sie diesen Traum erzählte, war gerade ein ganz junger Pfleger zugegen und sie fragte ihn: „Wissen Sie, wer die Rothschilds waren?“ Der junge Mann schüttelte ratlos den Kopf …
Zu Moni meinte sie einmal zum Thema Datum: „Ich hätte gerne 31 Paar bunte Socken, eine Farbe für jeden Tag, die würde ich auflegen und dann wüsste ich immer, welcher Tag gerade ist!“ Sie fühlte sich ziemlich verloren in dieser neuen Umgebung, zog sich zurück in eine eigene Welt, vielleicht um besser mit der Tatsache leben zu können, dass ihre lebenslange Unabhängigkeit ein solches Ende gefunden hatte.
Lange hat sie sich das nicht angeschaut und von jenem inneren Punkt der Unabhängigkeit, der von nichts und niemandem verletzt oder genommen werden kann, beschlossen sich zu verabschieden. Bei Monis letztem Besuch sagte sie: „Ich weiß nicht, ob ich nächstes Mal noch da bin.“ Und so war es dann auch … als ich sie die Woche danach besuchen wollte, war sie tatsächlich gegangen.
Moni hat an der Begräbnisfeier teilgenommen, die von Frau M.s Verwandten auf sehr berührende Art und Weise mit gestaltet wurde. Die Begräbnisfeier wurde übrigens von einer Pastoralassistentin gestaltet. Eine starke, unabhängige Frau ist von einer Frau verabschiedet worden – das hätte ihr gut gefallen!