Die Kraft der Musik
Seit sechs Jahren gehört der wöchentliche Besuch im Pflegeheim Mödling zu meinem Leben – ich bin dankbar dafür, dass ich damit einigen Heimbewohnerinnen etwas Abwechslung in ihren Alltag bringen darf und gleichzeitig eine ganze Menge für mein eigenes Alter lerne. Im Laufe der vergangenen Jahre habe ich sehr unterschiedliche Frauen betreut und Anteil genommen an ihren entsprechend unterschiedlichen Lebenswegen, bevor sie ins Heim gekommen waren.
Die intensivste Erinnerung habe ich an Frau B., die erste, die ich im Herbst 2003 kennen lernte. Sie war ein sehr lieber, warmherziger Mensch, mit einem noch immer schönen, offenen Altersgesicht. Von ihr erfuhr ich viel über die schwere Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Aber sie betonte immer wieder, wie glücklich trotzdem ihre Jugend gewesen war, weil sie schon früh Anschluss an eine Jugendgruppe gefunden hatte, die für ihr ganzes Leben entscheidend wurde. Als Wichtigstes aus dieser Zeit erwähnte sie die vielen Lieder, die sie immer gemeinsam gesungen hatten und spontan begann sie „Kein schöner Land in dieser Zeit“. Viele andere Volkslieder folgten – ich kannte sie alle aus meiner Jugendzeit, hatte sie aber nie mehr gesungen, weil ich meiner Stimme nicht traute! Von nun an haben Frau B. und ich bei jedem Treffen hauptsächlich gesungen und auch als sie langsam geistig immer mehr in sich selbst versank, konnte sie noch singen, und die Texte fielen ihr wieder ein.
Als ich wenige Tage vor Frau B.’s Tod wieder zu ihr kam – sie lag anscheinend völlig teilnahmslos in ihrem Bett – saß neben ihr ein junger Mann, der sich als ihr in Linz lebender Enkel vorstellte und sehr traurig war, dass sie ihn nicht mehr erkannte. Ganz intuitiv stimmte ich „Kein schöner Land in dieser Zeit“ an – und Frau B. sang mit, mit leiser, brüchiger Stimme, alle vier Strophen. Als ich mich zu ihrem Enkel umdrehte, liefen ihm die Tränen über’s Gesicht und er sagte: „Danke! Wissen Sie, wie viele Jahre ich meine Oma nicht mehr habe singen hören?“
Zwei Tage später starb Frau B.