Von Müttern und Töchtern


Ein Mensch ist tot

Das Leben muss neu geordnet werden. Der Tod meiner Mutter hat alles aufgewühlt, auch wenn wir letztendlich lange darauf vorbereitet waren, hat es mich wie ein Schlag getroffen. Von einem Tag auf den anderen stellt sich vieles so anders dar, es muss neu geordnet werden. Ein riesiges Loch klafft nun dort, wo die Beziehung zu meiner Mutter eben noch war. Viele längst verschollen geglaubte Konflikte, Gefühle und Gedanken tauchen auf und stürzen alles in ein emotionales Chaos. Abschied zu nehmen ist ein langer Prozess, der viele verschie­dene Phasen durchlaufen hat, Beziehungen haben sich immer wieder infrage gestellt und sich neu gestaltet. Es sind Gefühle aufgetaucht, die an Grenzen der emotionalen Belast­bar­keit geführt haben, es gab streckenweise nur mehr einen Abgrund, der immer näher gerückt ist.

Als sie krank wurde, war das anfangs gar nicht so leicht zu bemerken, sie konnte das sehr gut verstecken und überspielen. Jetzt, im Nachhinein ist es mir völlig klar, dass die Symptome auf eine Abnahme der geistigen Fähigkeiten hingedeutet haben, aber sie hat uns etwas vorge­spielt und wir wollten es zu diesem Zeitpunkt auch nicht wahr haben und ihr gerne glauben. Wer will sich schon eingestehen, dass die eigene Mutter sehr krank ist, nicht mehr alleine leben kann und geistig nicht mehr fähig ist, die nötigsten Dinge, wie essen, saubermachen, einkaufen oder ihre Hunde zu versorgen, zu erledigen?

Das dann realistisch zu sehen und nötige Maßnahmen zu ergreifen ist uns wirklich schwer gefallen, denn es hat einen tief greifenden Wandel in der Beziehung zwischen Mutter und Töchtern zur Folge gehabt. Wir mussten den Wechsel vom Kind zu für das Leben unserer Mutter verantwortlichen Personen vollziehen. Und das hieß eine schrittweise Übernahme der Obsorge für unsere Mutter, die Abnahme von zuerst wenigen, aber dennoch wichtigen Entscheidungen, bis hin zu einer vollständigen Entmündigung.

Plötzlich steht man in vorderster Reihe
Es ist ein gewaltiger Schritt – er passiert zwar langsam, aber dennoch ist er dann vollzogen – wenn man die Fürsorge für die eigene Mutter vollständig übernehmen muss. Wenn von der eigenen Mutter ab nun keine Unterstützung mehr zu erwarten ist, sich die Rollen von Grund auf verändern, aus Kindern Erwachsene werden, ist das schließlich der letzte Schritt im Leben, der einen wirklich zum Erwachsenwerden zwingt.

Auch wenn man selbst längst kein Kind mehr ist und selbst für eine Familie und eigene Kinder verantwortlich ist, hatte man aber doch immer noch die schützende Hand der Eltern über sich, eine letzte Instanz, zu der man immer noch gehen konnte, wenn es Probleme gab, sie waren noch da. Jetzt sind sie es nicht mehr. Jetzt ist es endgültig, man ist kein Kind mehr, wenn die eigenen Eltern tot sind, man steht nun selbst in der vordersten Reihe und ist sozu­sagen die nächste Generation, die sterben wird, wenn das auch noch lange hin sein kann.

Während der langen und schweren Krankheit meiner Mutter habe ich mich oft gefragt, welchen Sinn hat das Leben, wenn man keine Zukunft hat, wenn man weiß, dass man sehr bald sterben wird? Es ist für uns, die wir eine Zukunft vor uns haben, an der wir alles orientieren, schlichtweg unvorstellbar, wie es ist, kein Morgen oder Übermorgen zu haben. In unserem oft hektischen alltäglichen Leben ist einfach keine Zeit und vor allem kein Platz, um über den Tod und das Sterben nachzudenken. Es wird ganz einfach ausgeblendet, so als gäbe es den Tod nicht und wir würden alle ewig so weiterleben. Wie aber ist das, sich sehr bewusst mit dem Sterben eines geliebten Menschen auseinander zu setzen?

Hoffnung, Liebe und Trost
Die Erfahrung, die ich gemacht habe, als ich den letzten Weg meiner Mutter über ein ganzes Jahr begleitet habe, hat mein Leben, mein ganzes Menschsein bereichert. Ich habe Dinge ge­sehen und vor allem gespürt, die ich bisher nicht erlebt hatte. Da waren Verzweiflung, Angst und Schmerz genauso spürbar wie Hoffnung, Liebe und Trost.

Es gab viele Höhen und Tiefen, ich möchte keine einzige Stunde davon missen. Ich habe wirklich viel gelernt, habe in Bereiche des Menschseins geblickt, die ich zuvor nicht für mög­lich gehalten hätte. Ich finde, dass sich durchaus Vergleiche zur Geburt eines Menschen ziehen lassen. Auch das ist etwas Wunderbares, ein Mensch, der bisher noch nicht da war, kommt auf diese Welt. Im Tod verlässt ein Mensch, der viel in seinem Dasein erlebt und der sie in vielen Punkten verändert hat, die Welt.

Beides ist eine wirklich großartige, wunderbare – und so eigenartig es auch klingt – eine zutiefst wunderschöne Erfahrung, die mich mit meiner eigenen Menschlichkeit in Berührung gebracht hat.

Ich möchte mich bei meiner Mutter bedanken, für die Liebe und die Fürsorge, die sie mir gegeben hat. Angesichts des Todes eines geliebten Menschen ist man selbst auch in gewisser Weise mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert und man fragt sich vielleicht, was kommt danach oder was bleibt. Ich bin mir zwar nicht sicher, was danach kommt, ich bin mir aber – nachdem ich beim Begräbnis versucht habe die Geschichte des Lebens meiner Mutter zu erzählen – sicher, dass etwas bleibt.

Nämlich die vielen Begegnungen, die vielen Freundschaften, die vielen Dinge, die jemand getan hat, mit denen er die Welt immer ein kleines Stück weit geprägt und verändert hat. Das hat mir auch das Begräbnis gezeigt, zu dem so viele Menschen gekommen sind, denen allen unsere Mutter wichtig war und die ein kürzeres oder auch längeres Stück auf dem Weg des Lebens mit ihr gemeinsam gegangen sind. Die Erinnerung an sie wird in jenen Menschen sicherlich noch lange weiterleben.

Der nebenstehende Text wurde uns von Frau Eveline Christof zur Verfügung gestellt, deren Mutter Rosa wir von Ende Oktober 2008 bis zu ihrem Tod im August 2009 zu Hause im Kreise ihrer Familie betreuen durften. Vielen Dank!